Donnerstag, 16. April 2009

Reich-Ranicki - was die Beweihräucherung unterschlägt

http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2009-16/artikel-2009-16-literatur-pakt-mit-dem-teufel.html


Literatur

Pakt mit dem Teufel

Wie tief war Reich-Ranicki in die Geheimdienst-Machenschaften der polnischen Kommunisten verstrickt? Ein Biografie und ein Spielfilm geben unterschiedliche Antworten.

Von Gerhard Gnauck

«Sie wollen über Reich-Ranicki schreiben? Der trägt ja inzwischen einen Heiligenschein.» «Reich-Ranicki? Der wird eines Tages direkt in den Himmel auffahren.» Das waren die spontanen Reaktionen zweier deutscher Verleger, denen ich meine Absicht vortrug, ein Buch über den «Literaturpapst» zu schreiben. Kein Zweifel: Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist mehr als nur eine «Ikone des Feuilletons», zu der Bundeskanzlerin Merkel ihn erklärt hat. Die halbwegs säkularisierten Deutschen bringen Reich-Ranicki inzwischen eine fast schon religiöse Verehrung entgegen. Sie treten dem Kritiker weit unkritischer gegenüber als dem «echten» Papst Benedikt XVI.

Diese Verehrung hat einen quasireligiösen Grund. Wer im 20. Jahrhundert Opfer deutschen Wahns wurde und dennoch im Getto Goethe hochgehalten hat, wer nach Auschwitz den kulturellen Aufschwung Deutschlands mitgestaltete, wer immer wieder betont, der Ermordung seiner Familie zum Trotz nie Rachegefühle empfunden zu haben – spricht dieser Mann nicht kraft seiner Autorität der deutschen Nation die Vergebung zu? Es ist für den Seelenhaushalt der Deutschen ungemein wichtig, dass sie diesen Papst in ihrer Mitte haben.

Ich lebe und arbeite in Polen, wo alles begann. Hier wurde Reich-Ranicki geboren, hier hat er insgesamt 29 prägende Jahre seines Lebens verbracht. «Beinahe zwanzig Jahre habe ich hier unendlich viel erlebt und ertragen, gelitten und geliebt», schreibt er über Warschau, wo er die schicksalhafte Zeit von 1938 bis 1958 verbrachte. In Polens Hauptstadt leben heute die meisten Zeitzeugen, die den jungen Reich, den erwachsenen Ranicki und die Anfänge seiner Karriere miterlebt haben. Hier befinden sich wichtige Archive; die einstige Getto-Grenze ist kürzlich von einem Künstler demarkiert worden, und das Häuschen am Stadtrand, in dem Marceli und Teofila Reich nach ihrer Flucht aus dem Getto Unterschlupf fanden, steht noch und ist bewohnt. In den letzten Jahrzehnten hat meines Wissens nur einmal eine deutsche Journalistin das Haus aufgesucht. Was also lag näher, als in Polen nach den Spuren Reich-Ranickis zu forschen?

Als ich an polnische Verleger herantrat, waren die Reaktionen andere als in Deutschland. Ich wandte mich hoffnungsvoll an einen grossen Verlag in Krakau, der sich um die polnisch-jüdische Verständigung verdient gemacht hat. Man antwortete mir negativ: Der Held meines Buches sei keine «sympathische Gestalt», man wolle ihn nicht zusätzlich «popularisieren». Immerhin: Am Ende führte die Suche nach einem Verlag in Polen schneller zum Ziel als in Deutschland. Reich-Ranicki zeigte sich über mein Vorhaben anfangs not amused, versuchte, mich davon abzubringen, liess sich dann jedoch auf eine Zusammenarbeit ein.

Warum über Reich-Ranicki schreiben? Hat er nicht selbst schon alles gesagt? Vor einem halben Jahrhundert hat er sich Günter Grass folgendermassen vorgestellt: «Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude.» Doch seitdem hat er den polnischen und damit auch den polnisch-jüdischen Anteil in der öffentlichen Darstellung immer mehr zurückgedrängt. Es war in Deutschland nie populär, aus Polen zu kommen, und es galt auch unter deutschen Juden nicht als fein, ein «Ostjude» zu sein.

Deckname «Platon»

So ist die polnische Seite seines Lebens bis heute die unterbelichtete. Dass die Mitglieder der Familie Reich-Ranicki bis heute überwiegend Polnisch miteinander sprechen, erfahren wir aus seiner Autobiografie nicht. Die polnischen Kollegen, Freunde und Gegner erscheinen uns nur schemenhaft, selbst wenn sie auf Fotos jener Zeit neben ihm stehen. Diese Figuren zum Sprechen zu bringen, das Leben einer Jahrhundertgestalt in seinen Kontext zu setzen und dabei ein Stück europäischer Geschichte zu erzählen: Das war meine Aufgabe.

Reich-Ranicki hat in seinem Leben Schlimmes durchgemacht und bei schlimmen Dingen mitgemacht. 1940 wird Reich Insasse des Warschauer Gettos. Als ein junger Soldat aus Berlin Juden zur Zwangsarbeit treibt, verwickelt ihn Reich in ein Gespräch über Fussball, worauf er vorzeitig vom Arbeitseinsatz entlassen wird. Auch das ein Weg zum Überleben, den er später noch öfter beschreiten sollte: Er sucht und findet den Kontakt zu den jeweils Mächtigen. Reichs Überlebensstrategie war, in der (von den Besatzern eingesetzten) Getto-Verwaltung zu arbeiten, dem Judenrat.

Als zwei Jahre später die Vernichtung beginnt, flieht das Ehepaar Reich Anfang 1943 aus dem Getto und findet Unterschlupf im erwähnten Häuschen der Familie Gawin. Ende 1944 meldet sich Reich bei den neuen polnischen Streitkräften zum Dienst und ist wenig später Mitarbeiter des «Ministeriums für öffentliche Sicherheit», das die ungeteilte Herrschaft der Kommunisten aufrichten soll. Reich und seine Frau werden bei der Postzensur eingesetzt.

Gut ein Jahr später, 1946, schickt das Sicherheitsministerium den jungen Leutnant nach Berlin – zu einer Mission, die Reich-Ranicki später als «Pakt mit dem Teufel» apostrophieren sollte, ohne jedoch darzulegen, worin denn eigentlich die Brisanz dieses Auftrags gelegen habe. Das Sicherheitsministerium, so schreibt er in seiner Autobiografie, habe ihn dann jedoch offenbar «vergessen», ihm jedenfalls «keinerlei Weisungen» geschickt.

Der März 1946 war die Zeit, als die Kommunisten in Osteuropa ihre Machtpositionen erweiterten und Churchill vom «Eisernen Vorhang» sprach. Diese Vorgänge spiegeln sich auch in dem polnischen Büro in Berlin, wo Reich arbeitet. In der polnischen Stasi-Unterlagen-Behörde, die in Warschau eingerichtet wurde, finden sich Spitzelberichte aus dieser Zeit. Sie sind mit dem Decknamen «Platon» gezeichnet und betreffen die engsten Kollegen von Leutnant Reich. Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass Reich der Urheber gewesen sein könnte. Mein deutscher Verlag Klett-Cotta und ich baten Reich-Ranicki, als wir ihm im Dezember den Text des Buches zur Einsichtnahme übersandten, zu der in seinem Umfeld praktizierten Bespitzelung (und zum Text insgesamt) Stellung zu nehmen oder Korrekturen anzubringen. Reich-Ranicki erwiderte, er wolle nicht Stellung nehmen.

1948 und 1949 ging Ranicki im Auftrag des Sicherheitsministeriums, in diesem Falle seines Auslandgeheimdienstes, nach London. Eine seiner Aufgaben bestand darin, als Geheimdienstchef für Grossbritannien die Bespitze- lung der polnischen politischen Emigranten zu organisieren. Als das Agentennetz zusammenbricht, wird Ranicki abberufen, aus dem Ministerium und der KP ausgestossen und für zwei Wochen in Arrest gesteckt. Einige Monate vergehen, und Ranicki beginnt in Polen eine neue Laufbahn: als Literaturkritiker.

Verkannter Dissident?

Mit der Bewertung dieses Lebenslaufes tun sich viele in Deutschland schwer. Manche meinen Reich-Ranicki einen Bonus geben zu müssen. Wir Deutschen, heisst es dann, hätten uns einer Bewertung dieser Vorgänge zu enthalten. Sollen wir die Historiker abschaffen? Ist nicht jedes Nachdenken über Geschichte ein Nachdenken über und Bewerten von Ereignissen, die wir selbst nicht erlebt haben? Andere glauben offenbar, die Verfehlungen mancher DDR-Bürger könne man leicht be- und verurteilen, doch weiter im Osten versagten unsere Kategorien.

Die Frankfurter Rundschau schrieb kürzlich über Reich-Ranicki: «Ein junger Intellektueller, äusserst knapp den Nazis entkommen, wird nach seiner Befreiung Kommunist. Ja, zum Teufel, was denn sonst?» Nein, zum Teufel, die Mehrheit der Menschen in Osteuropa hatte 1945 nicht die geringste Lust, sich zum Kommunismus bekehren zu lassen. Und von jenen, die Kommunisten wurden, wollte auch nur eine Minderheit in einem Sicherheitsministerium Karriere machen. Was immer Menschen in schwerer Zeit getan haben: Entscheidend für uns sollte sein, wie sie sich heute dazu stellen. Václav Havel hat in der Diktatur versucht, «in der Wahrheit zu leben». Was auch vor 1989 nicht unmöglich war, sollte heute um vieles leichter sein. Doch von Reich-Ranicki lesen wir in einem seiner jüngsten Werke Verwunderliches, etwa über seine Ablösung vom Geheimdienstposten in London: Er habe 1949 «aus politischen Gründen um seine Abberufung» gebeten, heisst es im «Kanon» der Romane über den Herausgeber. Agentenführer Reich-Ranicki – ein verkannter Dissident?

Die Mehrheit der Deutschen verehrt ihren Reich-Ranicki. Ein Spielfilm auf ARD und Arte, gesendet über die Ostertage, setzte ihm ein Denkmal. Darin sind seine fünf Jahre im Sicherheitsministerium sicherheitshalber ausgeklammert.

Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 16/09

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